Jetzt fängt der Focke auch noch mit Buddhismus und so einem Scheiss an!
Naja, so schlimm wird es jetzt auch nicht! Ich will hier nur ein paar Denkanstöße geben.
Also was ist überhaupt dieses Wabi-Sabi? Erstmal: Es hat nichts mit Sushi und Wasabi zu tun! (Hmmmm. Sushi…)
Wabi-Sabi ist in Japan ein Konzept der Ästhetik – also der Wahrnehmung der Schönheit.
Wabi bedeutete ursprünglich so viel wie sich schlecht, verloren und einsam fühlen, wurde aber später zur geschmackvollen Einsamkeit oder an Ärmlichkeit grenzenden Bescheidenheit und bezog sich auf ein einsames und abgeschiedenes Leben in der Natur.
Sabi bedeutete ursprünglich kühl, abgemagert und welk oder viel mehr so etwas wie alt sein, Patina zeigen, über Reife verfügen.
Wabi und Sabi wurde irgendwann ab dem 14. Jahrhundert immer positiver gedeutet und wurden zur Beurteilung von Schönheit genutzt. Wenn jemand beispielsweise einsam im Wald lebt hat er sich den Blick für die Schönheit der einfachen Dinge und der Natur bewahrt und er ist sehr weise.
Inzwischen werden die Begriffe eigentlich nur noch zusammen in Form von Wabi-Sabi benutzt. Man könnte vielleicht Wabi auf den Herstellungsprozess eines Produktes beziehen und Sabi auf die Spuren, die die Benutzung des Produktes so über die Lebenszeit dessen mit sich bringt. Bezogen auf eine Teeschale wäre Wabi also ein nicht so hundertprozentig perfekt hergestelltes Produkt, welches nicht absolut rund ist und an dem die Glasur Fehler aufweist und Sabi wären Abplatzer an den Rändern und die Risse wenn man die Schale aus Versehen irgendwo angeschlagen hat.
Zusammen sind sie dann die Schönheit des Unperfekten. Nicht der perfekt gerade gewachsene Baum sondern eher die knochige alte Kiefer ist Wabi-Sabi – siehe Bonsai-Bäume. Nicht der perfekte runde neue Teekessel ist schön sondern der alte mit ein paar Dellen und einigen Roststellen aussen. Der mit Moos bewachsene Felsen ist schöner als der absolut saubere Stein.
Zusammenfassend kann man sagen, man sollte sich auf das Elementare konzentrieren. Man sollte die Dinge möglichst gut und ordentlich, aber man sollte sie nicht charakterlos perfekt machen.
Wabi-Sabi ist in Japan in so ziemlich alle Kunstrichtungen eingeflossen. Es beeinflusst die Akzeptanz, das Annehmen und die Arbeit mit der Unvollkommenheit, der Tatsache, dass sich alles ständig verändert.
Beispiele für Wabi-Sabi sind:
-Japanische Gärten
-Bonsai
-Japanische Teezeremonien
-Die Kunste des Ikebana, das Blumenarrangieren
-Japanische Poesie, besonders das Schreiben von Gedichten namens Haiku
-Honkyoku, die Musik der Zen-Mönche
-Keramik, zum Beispiel Kintsugi und Hagi
Das führt mich nun zum Kintsugi. Das bedeutet so viel wie Flicken aus Gold – Flicken im Sinne einer Verbindung. Es ist eine traditionelle japanische Methode Geschirr zu reparieren.
Irgendwann vor ein paar hundert Jahren, genauer im 15. Jahrhundert, ist einmal einem hohen Tier in Japan die Lieblingsteeschale heruntergefallen und dabei zerbrochen. Er hat die Bruchstücke zu den Produzenten nach China schicken lassen und sie gebeten ihm das zu reparieren. Das kam dann ziemlich hässlich zurück und dieses hohe Tier, um genau zu sein Shogun Ashikaga Yoshimasa, hat seine Handwerker aufgefordert eine schönere Reparaturmethode zu erfinden. So entstand Kintsugi. Zerbrochenes Geschirr wurde fortan mit Urushi-Lack geklebt, in den wahlweise Gold-, Silber- oder Platin-Pulver beigemischt wurde.
Die Ergebnisse waren dann so schön, dass auch absichtlich Porzellan zerschlagen wurde um es dann mit Kintsugi wieder zu reparieren und so ein völlig neues Objekt zu erschaffen, bei dem vermeintliche Makel zu einem Zeichen von Schönheit werden und den Wert des ursprünglichen Objektes immens steigern. Hier wird nichts vertuscht, versteckt oder ausgebügelt, sondern die dadurch entstandene Einzigartigkeit hervorgehoben.
Nach Kintsugi hat ein Teller, eine Tasse oder eine Schale an Charakter gewonnen und sieht somit viel schöner aus als vorher als es noch vermeintlich perfekt war.

Ich möchte für mich jetzt und hier so etwas wie das „Kintsugi der Fotografie“ einführen!
Die Fotografie ist inzwischen immer mehr das Zeigen von Perfektion geworden. Jegliche Falten werden wegrutschiert. Haut wird glattgezogen. Makel, Narben und Hautunreinheiten werden weggestempelt. Es werden sogar komplette Körper verflüssigt und so aus der Frau mit Rundungen und normalen Beinen wird eine übertrieben dünne Kunstfigur mit überdimensioniert langen Beinen. Augen und Münder werden vergrössert um mehr dem Kindchenschema zu entsprechen. Am Ende ist von dem eigentlichen menschlichen Wesen nichts mehr zu sehen und man hat eine absolute Kunstfigur vor sich. Das nennt sich dann allgemein „perfekt“.
Bei meinem „Kintsugi der Fotografie“ ist dies aber nicht so. Jede Falte und jede Narbe erzählt eine Geschichte die das Leben schrieb und in das Gesicht oder auf den Körper manifestierte. Diese Dellen, Narben und Falten machen jede und jeden einzelnen zu etwas einzigartigem. Ein Leben bringt den Menschen oft an die Grenzen und nur zu oft zerbricht man sozusagen daran. Im Berufsleben kann man schon mal den Job verlieren. In der Liebe und im Umgang mit anderen Menschen gibt es immer wieder Enttäuschungen, Verzweiflung und Brüche. Die Gesundheit spielt sehr oft sehr verrückte Spiele mit einem. Man muss dann versuchen alle Scherben aufzusammeln und wieder zusammenzufügen, auch wenn es Spuren hinterlässt und man nicht mehr jung, unschuldig und perfekt ist. Dieses Unperfekte ist aber wirkliche Schönheit! Mit dem Alter und den Spuren des Lebens wird man nicht weniger wert sondern im Gegenteil hat man immer mehr Erfahrung, Wissen und Emotionen in sich, welche man nicht verstecken sollte. Wir sollten alle viel mehr Wert auf Kintsugi legen!
Was bedeutet das für mich und meine Fotografie?
Ich will mehr Menschen mit Kintsugi fotografieren! Es ist zwar schön und nett perfekt aussehende und in Topform befindliche junge Menschen zu fotografieren, die keinerlei Makel haben und die dann noch einmal in Photoshop optimiert werden, aber noch viel reizvoller, spannender und schöner ist es Menschen mit Charakter zu fotografieren. Jede und jeder sollte einzigartig sein und ich will genau das zeigen. Ich will zeigen wie schön jemand mit markanten Narben sein kann, wie schön ein Gesicht mit Falten ist, in dem man wie in einem Roman lesen kann, welche Geschichten ein Körper erzählen kann, auf dem das Leben schon so einige Spuren hinterlassen hat, welche Ausstrahlung ein Mensch hat wenn er oder sie sich nicht für vermeintliche Makel schämt, sondern sie als Teil der Persönlichkeit annimmt und sie wie Auszeichnungen behandelt. Ich will die einzigartigen Geschichten der Menschen erzählen.
Das soll mein Kintsugi der Fotografie sein.
Roy
Bevor die Frage kommt: Das Foto zeigt eine Schale, welche ich nach Art des Kintsugi repariert habe.